Gastbeitrag von Nicolas Alexander Otto
Leseprobe aus dem Buch “Fotografieren in der Natur”, veröffentlicht im Rheinwerk Verlag
In der Landschaftsfotografie geht es oft darum, die Gesamtheit einer Szene einzufangen. Für große Panoramablicke, bei denen Vorder- und Hintergrund gleichermaßen integraler Teil einer Landschaft sind, kommen daher oft Weitwinkel- oder sogar Ultraweitwinkelobjektive zum Einsatz. Darunter versteht man im Allgemeinen Brennweiten von weniger als 24 mm im Vollformat (im APS-C-Bereich von weniger als 18 mm). Diese Linsen haben mit ihren großen Bilddiagonalen von bis zu 114° (bei 14 mm) und einen ganz eigenen Look. Je mehr Sie in Ihrem Bildrahmen unterbringen wollen, um den Dimensionen eines Motivs Ausdruck zu verleihen, desto komplizierter wird jedoch auch die Bildgestaltung. Weitwinkelobjektive weisen zudem stärkere perspektivische Verzerrungen auf und betonen folglich den Vordergrund sehr stark. Diese und einige andere Umstände machen Weitwinkel-Kompositionen spannend und herausfordernd zugleich.
Eine neue Perspektive
Normalerweise, wenn Sie ein Motiv fotografieren – sei es eine Hütte auf einer Wiese, ein Brandungspfeiler am Meer oder auch ein Bergblick im Morgenlicht –, räumen Sie dem Motiv den meisten Platz im Bild ein. Das Weitwinkelobjektiv hingegen erfordert ein wenig mehr Finesse bei der Komposition. Durch die ausgeprägte Tiefenwirkung des Objektivs müssen Sie die gesamte Landschaft in Betracht ziehen. Behalten Sie Ihr Hauptmotiv als visuellen Anker im Hinterkopf, es wird später als Blickfang dienen, doch betrachten Sie auch das Zusammenspiel der einzelnen Landschaftsaspekte im Ganzen. Die Kunst einer guten Weitwinkelaufnahme besteht im gekonnten Kombinieren von Vorder-, Mittel- und Hintergrund zu einem Gesamtkunstwerk. Das bedeutet, dass Ihr Vordergrund mindestens genauso wichtig ist wie Ihr eigentliches Motiv.

Weitwinkelaufnahmen erlauben es Ihnen, gleichzeitig Vordergrund und Himmel einzufangen. Bei besonderen Lichtsituationen sind sie oft das Werkzeug der Wahl in der Landschaftsfotografie. / Aufnahmeparameter: 14 mm | ƒ2,8 | 10 s | ISO 1 250 | Stativ
Es bedarf etwas Übung, bis sich Ihre Sehgewohnheiten ändern. Bei einem 35-mm-Objektiv suchen Sie meistens nach Kompositionen in einer Entfernung von einigen Metern, doch bei 14 mm Brennweite ist auch Ihr unmittelbarer Vordergrund Teil der Komposition. Sie können also Objekte, die sehr nah an Ihrer Kamera sind, genauso nutzen wie solche, die weit entfernt sind. Nehmen Sie sich genug Zeit, um mit der Kamera im Anschlag die Gegend zu erkunden und nach interessanten Vordergründen zu suchen!

In diesem Bild habe ich die Büsche so angeordnet, dass sich der Blick an ihnen parallel zum Ufer bis zur Sonne entlanghangeln kann.
Aufnahmeparameter: 20 mm | ƒ11 | 1/60 s | ISO 100 | Stativ

Die Steinschichten und die ziehenden Wolken führen von den Bildecken in die Mitte hin. Der Effekt wird durch die Verzerrung verstärkt, wodurch das Foto an Dynamik gewinnt. / Aufnahmeparamter: 10 mm | ƒ8 | 30 s | ISO 160 | APS-C | Stativ, Polfilter, Graufilter
Von Nah zu Fern
Weitwinkelobjektive sind für Landschaftsfotografen so reizvoll, weil sie es erlauben, eine Landschaft ganzheitlich abzubilden – nicht nur ein zentrales Motiv, sondern auch das, was wir nur mit der peripheren Sicht wahrnehmen. Besonders sinnvoll sind Kompositionen, die den Vordergrund nutzen, um den Blick vom Vordergrund in den Hintergrund zu leiten. Je näher Sie mit der Kamera an kleine Pflänzchen, Steinstrukturen oder Ähnliches herangehen, desto stärker werden diese durch die perspektivische Verzerrung betont. Suchen Sie also nach einem Vordergrund, der nicht zu sehr von Ihrem Hauptmotiv ablenkt, aber dennoch eine Daseinsberechtigung hat – sei es durch Farbkontraste, eine Reihe von kleinen Objekten, die eine Linie zu Ihrem Motiv bilden, oder eine direkte Führungslinie wie ein Bach, eine Felskante oder ein Verlauf in der Helligkeit. Die Blickführung sollte so gestaltet sein, dass das Bild auf angenehme Art und Weise erkundet werden kann und das Auge automatisch vom Vorder- zum Hintergrund und wieder zurück wandert.
Der Mittelgrund wird durch die Höhe Ihrer Kamera definiert: Je weiter Sie nach unten gehen, desto schmaler wird Ihr Mittelgrund und umgekehrt. Ich tendiere dazu, etwas Mittelgrund im Bild zu belassen, damit keine direkte Verbindung zwischen Vorder- und Hintergrund entsteht. Ohne Mittelgrund haben Weitwinkelaufnahmen keine Tiefe. Achten Sie auch darauf, dass Sie nicht zu viele Elemente in Ihrer Komposition haben.
Auch wenn das Weitwinkelobjektiv dazu einlädt, möglichst viel ins Bild zu nehmen, ist es wichtig, das Foto auf das Wesentliche zu reduzieren. Denken Sie immer daran, was Sie an der Landschaft besonders fasziniert, und versuchen Sie, dies durch die richtige Gewichtung der Bildanteile zu betonen, um ein harmonisches Bild zu schaffen.
Konkret verteile ich meine Vordergrund-Objekte oft so, dass sie unten links einen Blickfang bieten und dann nach oben rechts einen visuellen Pfad schlagen, der bei meinem Hauptmotiv endet. Auf diese Weise wird das Bild vom Betrachter auf zwei Bildachsen gleichzeitig erkundet.
Die kleinen Blaubeeren auf dem Hügel des Hesten auf Senja werden hier dank dem Ultraweitwinkel besonders betont und entfalten so einen passenden Farbkontrast. Der Berg erscheint auch etwas prominenter als in der Realität. / Aufnahmeparameter: 15 mm | ƒ11 | 1/40 s | ISO 200 | Stativ, Polfilter
Verzerrung kreativ nutzen
Die meisten Weit- und Ultraweitwinkelobjektive zeigen eine unterschiedlich starke Verzerrung zu den Bildrändern hin. Das bedeutet, dass die Bildbereiche dort etwas langgestreckter erscheinen. Diesen Effekt können Sie in der Landschaftsfotografie sehr gut nutzen. Richten Sie die Kamera auf dem Stativ etwas nach unten, werden Berge im oberen Bildbereich sowie der unmittelbare Vordergrund betont. Ähnlich verhält es sich mit Vordergrundlinien, die bei einer niedrigen Kameraposition zu den Bildecken hin gebogen werden. Dies sorgt dafür, dass gerade Linien oft zu diagonalen verzerrt werden und so die Tiefe des Bildes verstärken. Gleichzeitig beeinflusst dies die Blickführung positiv, da es den Blick des Betrachters in die Ferne lenkt. Diese Verkrümmung tritt auch bei Wolken auf und kann somit auch im Himmel ihre Wirkung entfalten.
Andererseits sind Bildbereiche in der Mitte des Bildes oft kleiner als in der Realität wahrgenommen und wirken im Vergleich zu den überbetonten Randbereichen unterdimensioniert. Um diesen Effekt zu kompensieren, müssen Sie immer näher an Ihr Motiv heran, als Sie denken. Drehen und wenden Sie Ihre Kamera vor Ort ein wenig, um ein Gefühl für die Verkrümmung zu bekommen. Sollten Sie Bauwerke oder Menschen am Bildrand platzieren, wirken sie breiter als in der Realität. Um dies zu vermeiden, platzieren Sie sie etwas weiter in die Mitte Ihrer Komposition.
Schärfentiefe optimieren
Ein Problem, das viele Fotografen bei komplexen Kompositionen im Weitwinkelbereich haben, ist der auftretende Mangel an Schärfentiefe. Insbesondere Ultraweitwinkelobjektive bieten aufgrund ihrer kurzen Brennweiten prinzipiell mehr Schärfentiefe, doch je näher Ihre Vordergrundobjekte an der Kamera sind, desto schwieriger wird es, alles im Bild ausreichend scharf abzubilden. Daher verwende ich bei einer typischen Weitwinkelaufnahme in der Regel Blende ƒ8 und kontrolliere meinen Bildausschnitt, ob die nächsten sowie fernsten Bildanteile ausreichend scharf sind. Sollte das nicht der Fall sein, schließe ich die Blende weiter und kontrolliere erneut. Dabei versuche ich, Blenden wie ƒ16 oder ƒ22 zu vermeiden, da bei diesen Werten die Beugungsunschärfe langsam sichtbar wird und das Bild global an Schärfe verliert, unabhängig vom Schärfentiefenbereich. Zwar können Sie in der Raw-Entwicklung einen Teil des Schärfeverlusts kompensieren, aber optimale Schärfe ist dann nicht mehr möglich.
Um diese Perspektive zu ergattern und das Steinfeld, das nur etwa einen Meter vom Wasser entfernt war, so groß abbilden zu können, war meine Kamera nur wenige Zentimeter über dem Boden. Die Schärfentiefe reichte selbst bei ƒ16 nicht annähernd aus, weshalb ich insgesamt zehn Aufnahmen machen musste. / Aufnahmeparameter: 16 mm | ƒ11 | 0,4 s | ISO 100 | Stativ, Polfilter
Wenn Sie mehr als Blende ƒ13 benötigen, damit alles im Bild scharf ist, aber keinen Kompromiss bei der Bildqualität eingehen wollen, können Sie auch die Focus-Stacking-Technik nutzen. Dabei kombinieren Sie in der Bildbearbeitung mehrere Belichtungen mit unterschiedlichen Schärfepunkten. Wie Sie dafür vorgehen müssen, ist einfach erklärt: Machen Sie zusätzliche Aufnahmen, bei denen Sie auf die Bereiche scharfstellen, die in Ihrer ursprünglichen Aufnahme unscharf waren. Um Pixelversatz zu vermeiden, verwenden Sie am besten ein Stativ. Überprüfen Sie nach Abschluss der Bildserie, ob alle Aufnahmen zusammen ausreichend Schärfentiefe bieten. Die Schärfeebenen der Bilder sollten außerdem ausreichend überlappen, damit die Bearbeitungssoftware sie später problemlos zusammensetzen kann. Die einzelnen Bilder können Sie mit Programmen wie Photoshop, Combine ZP oder Helicon Focus zusammenfügen und anschließend weiter bearbeiten.
Schritt für Schritt zum Bild
Schritt 1
Suchen Sie sich ein zentrales Motiv und beginnen Sie damit, die Umgebung zu erkunden. Je kleiner das Motiv, desto näher müssen Sie heran, sonst erscheint es im Weitwinkel zu klein. Halten Sie Ausschau nach Linien und interessanten Objekten für die Blickführung im Vordergrund der Komposition.
Schritt 2
Bewegen Sie die Kamera etwas hin und her und schauen Sie, wie die perspektivische Verzerrung Ihr Bild beeinflusst. Nutzen Sie diese, um die Linienführung zu optimieren, Tiefe zu erzeugen oder bestimmte Objekte an den Bildrändern vergrößert erscheinen zu lassen.
Schritt 3
Nutzen Sie Ihre Bewegungsfreiheit dazu, die Bildelemente ausbalanciert anzuordnen, sodass ein Gleichgewicht im Bild entsteht, bei dem der Vordergrund als Komplement des Hintergrunds funktioniert. Im Optimalfall erarbeiten Sie eine visuelle Ergänzung durch Textur, Linien, Farbkontraste oder Helligkeitsverläufe.
Schritt 4
Machen Sie eine Testaufnahme und überprüfen Sie die Schärfe Ihres Bildes. Haben Sie auf den Vordergrund fokussiert und der Hintergrund ist nicht mehr scharf, müssen Sie die Blende weiter schließen. Ist die Schärfentiefe auch bei ƒ16 nicht groß genug, ziehen Sie Focus Stacking in Betracht.
Schritt 5 (optional)
Ist die Tiefenschärfe auch bei ƒ16 nicht groß genug, ziehen Sie Focus Stacking in Betracht. Dafür fokussieren Sie nach und nach die Bildbereiche, in denen ein Schärfeabfall zu verzeichnen ist. Nutzen Sie für alle Aufnahmen die gleichen Kameraeinstellungen und überprüfen Sie, ob die Bilderserie insgesamt eine ausreichende Tiefenschärfe aufweist. Kombinieren Sie in der Bildbearbeitung einzelnen Belichtungen in einem Programm Ihrer Wahl.
Über Nicolas Alexander Otto

Nicolas Alexander Otto ist Profi-Landschaftsfotograf, Podcasthost, Fotoguide und Public Speaker. Sein Ziel ist es, Schritt für Schritt das perfekte Bild zu schaffen, das die Atmosphäre eines Ortes in ihrer ganzen Intensität einfängt. Als Host des „Landschaftsfotografie Podcasts“ und Betreiber eines YouTube-Kanals, auf dem er Bildkritiken und Nachbearbeitungstipps gibt, glaubt er fest daran, dass man sein Handwerk ständig verfeinern kann. In seinen Bildern versucht er, den romantischen Eindruck der Atmosphäre vor der Linse einzufangen und die Essenz eines Ortes in Farbe und Form auf den Sensor zu bannen.
Hier geht es zum Buch:
Christine Averberg, Simone Baumeister, Daniel Böttcher, Silke Hüttche, Rupert Kogler, Nicolas Alexander Otto, Jan Piecha, Felix Wesch
Fotografieren in der NATUR
344 Seiten, gebunden, 39,90 Euro
ISBN 978-3-367-10349-2

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