"Hartes Handwerk und weiches Leder" – Fès | Marokko © Sientate

PROJEKT SIENTATE – Ein Sessel auf Reisen: Teil 4

Der ganz normale Wahnsinn / Ein Gastbeitrag von Stefan Sirtl

„Allaaaaaahu Akbar!“ Es ist 5 Uhr morgens und der Muezzin ruft zum Morgengebet, dank marokkanischer Zeitumstellung während des Ramadan sogar eine Stunde früher als üblich. Wohl oder übel Zeit aufzustehen, noch ein schneller Kaffee, Kamera packen, auf Zehenspitzen aus dem Camper schleichen, den Sessel aus der Heckgarage und Reifen dran, los geht’s: mit Sessel in die Medina von Fès!

Schon am Tag zuvor waren wir mal vorfühlen im wohl wirrsten Altstadtlabyrinth Marokkos. Ohne jede Ahnung, in der Erwartung eben wieder einen dieser typischen Souks (marokkanischer Markt) zu erleben, traten wir durch das goldene Eingangstor – und waren hin und weg. Wuseliges Treiben in uralter Tradition, ein Sud aus Farben und Gerüchen, qualmende Küchen, von überall geschäftige Rufe – „aus dem Weg!“, ein mit Gasflaschen bepackter Esel drängt vorbei – zerfurchte Gesichter in bunten Tüchern – und in den Hinterhöfen die typischen Gerbereien mit den runden Becken. Was für ein Fest der Sinne! Klar, dass ich diesen Ort mit Sessel erleben musste.

Jetzt stehe ich hier am Straßenrand vor dem Campingplatz und frage mich, wie überhaupt in die Medina kommen? Ich winke etlichen Mini-Taxis zu, diese beim Anblick des klobigen Sessels aber nur dankend ab. Irgendwann winke ich einfach allen, und tatsächlich sitze ich nur kurz später neben Ibrahim auf seiner Trombia, einem typisch marokkanischen dreirädrigen Moped mit Ladefläche, darauf der rote Sessel. Mit Vollgas und staubigem Fahrtwind schlängeln wir uns durch den hupenden Morgenverkehr in Richtung Medina. Unser Ziel: die große Chouara-Gerberei. Wir haben ein Date.

Kaum angekommen wird unser noch tuckerndes Gefährt von einer übereifrigen Traube Männer umzingelt, Mohamad lacht mich an: „Welcome my friend, let’s go!“. Bevor ich groß irgendwas erwidern kann, wird auch schon der Sessel von der Ladefläche gehieft und verschwindet auf den stärksten Schultern in einem dunklen Hauseingang. Ich murmle noch was von wegen „aber passt bitte auf den Sessel auf!“, schnappe mir die Kamera, und eile hinterher durch ein Wirrwarr von Gängen, vorbei an Mühlrädern, an noch triefenden Haufen Lederhäuten, schwitzende Arbeiter schauen kurz verwundert auf, der beißende Geruch von Ammoniak wird stärker, da eröffnet sich vor mir der beeindruckende Innenhof mit den vielen farbigen Sudbecken.

Irgendwo auf dem Beckenmeer entdecke ich dann den roten Sessel, immernoch auf den Schultern des starken Mannes, der ihn gekonnt auf den engen Stegen zwischen stinkendem Sud balanciert. Mohamad wartet schon ungeduldig auf Anweisungen: „Here brother?“. Jetzt muss es schnell gehen. Wie sind die Lichtverhältnisse? Welche Perspektiven sind möglich? Welches Motiv? Wen will ich überhaupt portraitieren? Und will der überhaupt portraitiert werden? Lehrbuchfragen a la Grundlagen der Portraitfotografie schießen mir durch den Kopf. Da lässt der starke Mann ächzend den Sessel von seinen Schultern, nimmt selbst erschöpft Platz, und schaut mich entschieden an – wäre das also schon mal geklärt. Kurze Zeit später bin ich oben auf den umlaufenden Balkonen und fotografiere was das Zeug hält. „Etwas weiter rechts – nein, doch links – ja, so – 3,2,1 – SHOT – …“. Ich rufe und gestikuliere mit Händen und Füßen, Mohamad und der starke Mann schauen rätselnd zurück und hiefen unerschöpflich den Sessel von einer Stelle zur anderen. Bis ich schließlich erlösend abwinke, „we got it!“.

Wieder unten angekommen hängen wir zu dritt über dem Mini-Bildschirm der Kamera und klicken uns durch die Fotos. Mäßige Begeisterung. „We should try it over there“, Mohamad zeigt auf die andere Seite des Innenhofs, der starke Mann nickt zustimmend. Und dann dirigieren die beiden mich, bis ich nur noch den Auslöser drücken muss. Klick! „You got it?“ ruft Mohamad. Ich bin sprachlos.

"Hartes Handwerk und weiches Leder" – Fès | Marokko © Sientate
“Hartes Handwerk und weiches Leder” – Fès | Marokko

Irgendwo fing dann jemand an zu klatschen, weitere stimmten ein, bis von überall lauter Applaus durch den Hof schallte. Jetzt ließen auch andere Arbeiter ihre Felle schwimmen und strömten zum Sessel, ich übergab die Kamera an Unbekannt, Gruppenfoto, yeayyyyy!

Marokko © Sientate

Dieses Erlebnis in Fès sollte nur der Anfang sein einer wilden Reise zwischen Atlantik, dem Atlasgebirge und der Sahara. Darüber dann aber mehr im nächsten Beitrag hier auf AC-FOTO, Inshalla!

Wer unsere Reise nah verfolgen will, kann uns auch gerne auf unseren Instagramkanälen @sientateproject für Sessel- und @araratururus für Vanlife-Content folgen. Hier im Blog werden weitere detailreichere konzentrierte Beiträge erscheinen über Momente und Facetten einer weiten Reise mit Sessel.

Hier geht’s zum aktuellen Reel des Projekts.

Die Geschichten zu den Portraits und weitere Hintergründe zum Projekt gibt’s auf sientate.de. Zu unseren bisherigen Blogbeiträgen gelangt ihr hier.

Über Stefan Sirtl

Stefan Sirtl

Stefan Sirtl ist ein Abenteurer durch und durch, getrieben von purer Lust am Leben, seiner Liebe zur Kunst und einer gehörigen Portion Verrücktheit. Ob als Promotionsstudent in Teilchenphysik, als Lehrer für Mathe und Physik im Klassenzimmer, oder als Amateur-Fotograf hinter der Kamera – Stefan Sirtl sucht nach Wegen, das Leben aus unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen und seinen Blick auf die Welt zu teilen. Künstlerisch fand Stefan Sirtl mit „SIENTATE“ (spanisch für „Setz dich“) ein Herzensprojekt. Dabei reist er mit einem roten Sessel um die Welt und lädt Begegnungen ein, für ein Fotoportrait Platz zu nehmen. So ist über die Jahre ein farbenfrohes Bild der Vielfalt des Menschen entstanden – und die Reise geht weiter!

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