Heute erinnere ich mich immer noch gerne an die Weihnachten meiner Kindheit. Einer der Gründe ist eine Märklin-Modelleisenbahn, die in den Wochen vor und nach Heiligabend mein damaliges Kinderzimmer fast ganz einnahm. Ganze Landschaften waren dort nachgebildet und die Dampflocks dampften tatsächlich. Seither faszinieren mich Bahnanlagen. Heute aber nicht mehr wegen einer dampfenden Dampflock. Sie faszinieren mich heute fotografisch, naturfotografisch und biologisch fast gleichermaßen.
Denn auf Bahnanlagen, besonders auf denen mit stillgelegten Gleiskörpern, entwickelt sich mit der Zeit eine Art von „urbaner Wildnis“, die es in den üblichen innerstädtischen Grünflächen wie Parks, Friedhöfen oder Gärten faktisch nicht gibt. Denn hier wird nichts durchgestylt, vermeintlich „einreguliert“ oder gar professionell gemanagt.
Hier darf es wachsen wie es will, egal ob Storchschnabel, Brombeere, Schmetterlingsflieder oder Birke. Deswegen ist diese Form von „Sekundär-Wildnis“ gerade in dichtbebauten Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet oder Großstädten wie Berlin sprichwörtlich ein „Verkehrsknotenpunkt“ für wildlebende Pflanzen und Tiere, sozusagen ein Hot-Spot biologischer Vielfalt.
Unter den Pflanzen-, Pilz,- und Tierarten an alten Gleisanlagen sind besonders Viele, die es recht warm und trocken mögen, Reptilien zum Beispiel. Genauer: Eidechsen. Zusammen mit Wespenspinnen, Ödlandschrecken oder Hausrotschwänzen tummeln sie sich gerne dort, wo ICE & Co mal unterwegs waren und heute nur noch „tote“ Gleise liegen.
Die flinken „Gleisdrachen“ sind meistens Mauereidechsen (Podacris muralis). Sie sind unter den hiesigen Eidechsenarten die wahren Sonnenanbeter.In unseren Breiten besiedeln sie daher die sonnigsten und wärmsten Lebensräume. Dort fühlen sie sich auch dann noch wohl, wenn es unsern anderen Eidechsenarten, den Zaun- und Waldeidechsen sowie der Blindschleiche bereits zu warm zu trocken wird. Das gilt offenbar auch für Eisenbahngleise, die sich, von der Sonne voll beschienen, über Tag so stark aufheizen, dass kein Homo sapiens barfuß darüber laufen möchte. Aber Drachen scheuen ja bekanntlich weder Feuer noch heißes Eisen.
Es gibt allerdings nur wenige wirklich gut zugängliche Orte, an denen man Mauereidechsen auf Eisenbahngleisen beobachten und fotografieren kann, denn Gleiskörper sind meist – völlig zurecht- für die Öffentlichkeit und damit auch für Fotografen nicht frei zugänglich. Ohne besondere Genehmigung geht da nix! Eine der für die Öffentlichkeit freigegebenen, alten Gleisanlagen liegt in der Ruhrgebietsstadt Duisburg, im dortigen Landschaftspark „Duisburg-Nord“.
Zusammen mit meinem Foto-Freund Markus Botzek und weiteren Fotografen, die das Projekt www.wildes-ruhrgebiet.de betreiben, entschloss ich mich genau dort einen Workshop auf den stillgelegten Gleisanlagen der alten Werksbahnen durchzuführen. Die 15 Teilnehmer mussten keinen 10 Minuten warten und der erste Gleisdrache erschien. Jetzt galt es, ohne hektische Bewegung Gesicht und Kamera in Eidechsen-Augenhöhe zu bringen und voll konzentriert die Ruhe zu bewahren. Der Kollege mit der Halbglatze im Vordergrund, Markus Botzek, macht es richtig, der Kollege rechst im Bild macht es fast richtig, die zwei anderen üben noch, aber dazu sind Workshops ja da.
Fazit: Es hat Spaß gemacht! Und zwar gleichermaßen mit Bridge-Kameras wie mit „großen“ D-SLRs an Zwischenring-bewehrten „langen Rohren“. „Wildes-Ruhrgebiet“-Mitbegründer und Workshop-Co-Referent Alexander Krebs schaffte es dabei sogar, Mauereidechsen-Fotografie mit Smartphone-Kamera und 4,0/600mm Objektiv zu demonstrieren, während Markus Botzek und ich das gute, alte und vielfach bewährte 200er Makro sowie die Zoomlinsen 4.0/200-400 und 5.6/200-500 nutzten.
Und am 15. Juli 2017 gibt’s ein Revival des „Ruhrpott-Gleisdrachen-Workshops “. An Alle die das hier lesen: Bitte betet für gutes Wetter!
Text & Fotos: Peter Schütz
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